An einem Oktobernachmittag besuchte ich meine Oma. Das passiert nicht oft, denn sie wohnt 6 Zugstunden von mir entfernt. Sie ist schwer dement und als ich ihr Heimzimmer betrat, war sie ängstlich und wähnte sich – nach eigenen Worten – als Kind in der Schule. Ich setzte mich vor sie und stellte ihren Rolli so, dass sie zum Fenster hinausschauen konnte.
Ich nahm ihre Hände in meine. Sie hatte die Augen geschlossen und verkrampfte immer wieder ihre Arme. Ihre Worte waren eher klagendes Stöhnen. Nach einer Weile begann ich, ihre Hände abwechselnd in meinem Atemrhythmus sanft zu streicheln. Sie hielt weiterhin ihre Augen geschlossen und reagierte nicht auf Ansprache. Irgendwann, vielleicht nach einer viertel Stunde, begann sie, mit ihrem Daumen und Zeigefinger mein Streicheln zu erwidern. Unsere Finger tauschten zärtliche Berührungen aus. Ihr Röcheln verstummte, sie schloss ihren Mund und atmete – immer noch flach – durch ihre Nase. Ihre Arme wurden lockerer und ihr Gesicht entspannter.
Manchmal sprach ich sie an, umarmte sie oder streichelte ihren Kopf. Ihre Augen blieben geschlossen, keine Worte oder andere für mich erkennbare Reaktion. Aber mit unseren Händen haben wir uns noch eine ganze Stunde unterhalten. Als ich ging wirkte sie ganz friedlich. Vermutlich wird ihr in-Frieden-sein nicht lang angedauert haben. Doch in unserer gemeinsamen Zeit fühlte ich mich ihr (und allem Anschein nach war es für sie ebenso) sehr verbunden und in Frieden.
Das ist mehr als ein Jahr her und ich bin immer noch sehr dankbar für diese Begegnung. Manchmal ist so wenig so viel.